Unter Kultursensibilität verstehe ich die Achtung der Würde des Menschen. Die Würde des Menschen, so Kant, ist weder käuflich, noch erblich, ja, sie hat kein entsprechendes Äquivalent.
In der Wohlfahrtspflege bedeutet „kultursensible“ Versorgung nichts anderes als, dass die jeweiligen Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte sowie auch die spirituellen Bedürfnisse des Betroffenen gewürdigt werden. Damit diese Menschen ihren inneren Frieden finden.
Das bedeutet, dass ich als Mediziner darauf Rücksicht zu nehmen habe, dass die Vorstellung vom Sterben kulturspezifisch sein kann. Auch im Bereich der Sterbebegleitung existieren Unterschiede, die zum Teil kulturell, aber auch religiös bedingt sein können. Aber nicht nur in der Palliativ-Versorgung spielt die „kultursensible“ Pflege eine Rolle, sondern in allen Bereichen der Wohlfahrtspflege. Sie gewinnt an Bedeutung in der psychosozialen Versorgung, in der Betreuung von Menschen mit Schwerbehinderung, im Umgang mit psychisch erkrankten Menschen und natürlich im Bereich Organtransplantation.
Wenn ich einen Menschen verstehe, dann kann ich ihm in der Behandlung gerecht werden. „Kultursensibilität“ bedeutet aber auch, dass im Bereich der Jugendarbeit, der Frauenberatungsstellen, der Selbsthilfegruppen und in der Versorgung in den Pflegeheimen spezifische kulturelle Eigenarten berücksichtigt werden. In manchen Kulturen existieren weiterhin sogenannte Tabuthemen. Die Kultursensibilität will dieses Verhalten nicht verstärken, sondern aufklären, damit zum Beispiel homosexuelle Menschen nicht diskriminiert werden. Sie brauchen adäquate Anlaufstellen. Das gilt auch für Frauen, die misshandelt worden oder gar ungewollt schwanger geworden sind. Das gleiche Prinzip tritt auch für die Suchterkrankten in Kraft.
Mit dem Begriff der „Kultursensibilität“ fordere ich nicht den Aufbau eines separaten muslimischen Wohlfahrtssystems!
Vielmehr will ich darauf aufmerksam machen, dass wir in der Behandlung die Sozialisation und individuellen Bedürfnisse berücksichtigen sollten, um effektiver und teils auch pragmatischer agieren zu können. Es ist eine Tatsache, dass in Deutschland mehr als 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund leben. Auch diese Menschen werden krank, auch unter diesen Menschen gibt es natürlich Schwerbehinderte. Wir könnten, wenn wir die Mitarbeiter zum Beispiel der Caritas oder der Diakonie kultursensibel schulen, sowohl dem Pflegepersonal als auch den Betroffenen helfen.
Warum sollten wir das nicht tun? Wir könnten mit solch einfachen Schulungen mehr bewegen als durch gegenseitige Anfeindungen und Beleidigungen. Wenn wir in der Jugendarbeit, bei den Frauenberatungsstellen und anderen Einrichtungen in der Behandlung und Versorgung die Sozialisation und jeweilige Spiritualität der Betroffenen berücksichtigen, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Missverständnissen oder gar zu Konflikten kommt. Zufriedene und angenommene Menschen, die sich verstanden fühlen, sind gut für jede Gesellschaft. So kann die Integration auch gefördert werden. So verstehe ich den Begriff der „kultursensiblen“ Versorgung.
Weder plädiere ich für ein islamisches Wohlfahrtssystem, noch will ich Muslime persönlich angreifen, wenn ich die Themen „häusliche Gewalt oder Homophobie“ im islamischen Kontext in den Mund nehme. Ungerechtigkeit und Probleme müssen frei ausgesprochen und konstruktiv bearbeitet werden können, auch in unserer Community. Das kollektive Schweigen der islamischen Community hat zu viele Menschen schon in den Abgrund gestürzt. Wir müssen besonders im eigenen Interesse endlich an unseren Fehlern arbeiten und auch Kritik von außen ernst nehmen.
Ich will lediglich, dass wir uns gegenseitig würdigen, achten und respektieren.
Dr. med. Mimoun Azizi, M.A.
Über den Autor

Dr. med. Mimoun Azizi, M.A.
Mag. Dr. Mimoun Azizi (* 1972 in Hagen) ist ein marokkanischer Schriftsteller, Referent, Politikwissenschaftler, Neurologe, Philosoph sowie Psychiater. Er hält deutschlandweit Vorträge zu Themen bezüglich Integration (Migration), Politik, Islam, kultursensible Versorgung in der Medizin, Professionalisierung muslimischer Vereine sowie jener psychiatrischer und neurologischer Natur
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Mimoun_Azizi