Mit dem Aufkommen der Liebesheirat im 19. Jahrhundert und der sogenannten «sexuellen Revolution» in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind Liebe romantisiert und sexuelle Bedürfnisse zunehmend enttabuisiert worden. Varianten sexueller Orientierung und Vorlieben werden heute öffentlich diskutiert und akzeptiert. Doch sind damit Liebe und Sexualität im Alter ebenfalls enttabuisiert worden?
Als Jugendlicher war es für mich kaum vorstellbar, dass auch ältere Menschen wie meine Grosseltern noch Sex miteinander haben könnten. Ein «Klaps auf den Hintern» war das «Zärtlichste», das ich von meinem Grossvater seiner Frau gegenüber wahrgenommen habe. Während meinem Studium in den 70er-Jahren lehrte dann unser Professor für Alterspsychologie, dass auch ältere Menschen ein Bedürfnis nach Liebe und Sexualität haben und dieses auch leben dürfen und sollen. Manchmal scheint mir, aus dem Recht ist eher eine Pflicht geworden. Wir werden heute bei besserer Gesundheit wesentlich älter als früher. Damit verbunden scheint auch der Wunsch nach «ewiger Jugend» und Unsterblichkeit zu wachsen. Gleichzeitig wissen wir, dass unser Leben doch immer (noch) zeitlich begrenzt ist. Vielleicht auch darum die Angst, im Leben etwas zu verpassen. Zumindest deutet die Scheidungsrate im Alter, die in den letzten Jahren überdurchschnittlich stark angestiegen ist, darauf hin.
Lieben und Sterben
Mir scheint, das Thema Liebe und Sexualität im Alter weist einige Ähnlichkeiten auf mit einem ganz anderen, entgegengesetzten Thema, nämlich mit dem Sterben und Tod. Auch hier wird über selbstbestimmte Formen des Sterbens wie Sterbefasten, Beihilfe zum Suizid u. a. öffentlich diskutiert. Im Gegenzug treten immer mehr Menschen erst nach einem Spitalaufenthalt ins Pflegeheim ein, ohne sich davor je mit diesem Schritt auseinandergesetzt zu haben. Zunehmend höre ich auch in meinem Umfeld: «Lieber gehe ich mit Exit aus dem Leben, bevor ich pflegebedürftig oder dement werde.»
Entspricht dies der Enttabuisierung, die wir meinen? Oder braucht es nicht vielleicht doch eine andere Auseinandersetzung mit Themen wie Liebe und Sterben im Alter? Geht es dabei nicht auch darum, Verluste auszuhalten, sich damit auseinanderzusetzen und womöglich neue Qualitäten darin zu finden?
Liebe und Sexualität verändern sich im Alter. Und nicht nur ich, sondern auch mein Partner oder meine Partnerin verändern sich im Verlaufe des Lebens. Solange wir es nicht selber erfahren haben, wissen wir auch nicht, wie wir Liebe später einmal erleben werden. Was hält uns noch am Leben, wenn wir nicht mehr jung und voller Kraft sind, sondern zunehmend gebrechlich werden? Und was ist uns dann wirklich noch wichtig? Wir können es im Voraus nicht wissen. Und vielleicht wollen wir das auch gar nicht. Dann sind das die Tabus, die heute beim Thema Liebe und Sterben im Alter immer noch vorhanden sind.
Verlust und Abschied
Vielleicht ist es diese Hilflosigkeit und Unfähigkeit im Umgang mit den schwierigen Themen am Lebensende, die dazu beitragen, dass Medien in regelmässigen Abständen über scheinbar schlimmste Zustände in Pflegeheimen berichten. Zugegeben, diese gibt es leider in Einzelfällen tatsächlich, und unsere Aufgabe ist es, solche Vorkommnisse mit allen Mitteln zu verhindern. Aber es sind doch immer Einzelfälle, die in der medialen Darstellung, ohne positive Gegenbeispiele aufzuzeigen, rasch verallgemeinert werden. Die Vermutung liegt nahe, dass dies auch mit den noch vorhandenen Tabus im Alter zu tun hat; mit der Angst vor Verlust und der Ohnmacht beim Abschiednehmen – und vielleicht auch mit dem gleichzeitigen Anspruch, dass heute für alles gesorgt wird, alles einforderbar und einklagbar ist.
Hier sollte meiner Meinung nach ein Umdenken stattfinden. Dies im Sinne einer bewussten Auseinandersetzung mit noch vorhandenen Tabus im Alter. Was könnte für alte Menschen wichtig sein, was weiterhin zu einem erfüllten Leben beitragen kann, wenn die Kraft nachlässt und die Hilfsbedürftigkeit langsam zunimmt? Und wie gehen wir selber damit um?
Liebe im Alter
Im Buch «Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden» (Insel Verlag Berlin, 2014) schreibt der Philosoph Wilhelm Schmid: «Schön und voller Sinn ist das Leben immer dann und bis zuletzt, wenn da wenigstens einer ist, an dessen Dasein ich Freude habe und der seinerseits Freude daran hat, dass ich da bin, wenngleich vielleicht nicht jeden Tag.» Dabei, so meint Wilhelm Schmid, sind wir mehr als in jungen Jahren auf das Wohlwollen füreinander angewiesen. Immer häufiger bedürfen wir wechselseitig der Nachsicht bei nachlassender Vitalität und Attraktivität, vor allem aber dann, wenn einer sich stärker verändert, bei schwerer Krankheit oder Demenz.
Über den Autor
Beat Demarmels
Der Autorenbeitrag erschien zuerst auf der Internetseite https://www.vivaluzern.ch/de/viva-luzern/news/was-heisst-enttabuisierung-von-liebe-und-sexualitaet-im-alter/
Es ist erfreulich, dass auf „Pflegemoden“ ein wirklich wichtiges Thema wie Liebe und Sexualität im Alter so ausführlich behandelt wird. An Angehöriger meiner pflegebedürftigen Schwiegermutter, Mutter und Ehefrau, alle drei in Heimen, habe ich erlebt, dass Menschen von einem auf den anderen Tag zu geschlechtlosen Wesen gemacht wurden, Kettenraucher zu Nichtraucher und Alkoholiker zu trockenen Alkoholikern.
Leider sind es nicht, wie beschrieben, Einzelfälle, die immer wieder in Heimen zu beklagen sind. Ganz im Gegenteil! Es gibt in nahezu allenHeimen täglich Folter. Folter ist, wenn Menschen eine Magensonde erhalten und/oder gepampert werden, weil nicht genügend Personal vorhanden ist. Diese Folter wird gar noch „pflegeerleichternde Maßnahmengenannt. Und es ist auch Folter, wenn zwei Menschen in einem Zimmer leben müssen, die sich partout nicht vertragen. Und es ist eine Schande, dass Deutschland Spitzenreiter in der EU bei der Verabreichung von Neuroleptika in Heimen ist. Etwa die Hälfte aller Dementen/Alzheimer Kranken (ca. 250.000 Menschen) werden in Heimen mit der chemischen Keule sediert. Dies ist eine juristische Grauzone, denn andere freiheitsentziehende Eingriffe, z,.B. Gitter vor dem Bett,Fixierdecke) sind nur auch richterliche Anordnung möglich. Und es ist eine Fahrlässigkeit, wenn nachts bei 50 Bewohner/innen in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz bis zu 70, nur von einer einzigen Kraft betreut werden. Solche Praktiken gefährden teilweise das Leben der Bewohner und viele sind morgens nass oder liegen in ihrem Ausscheidungen oder sind in der Nacht gestürzt, weil auf ihr Klingeln niemand kam und sie deshalb aufstanden, um allein zur Toilette zugehen.
Oft ist auch das Essen nur ein Magenfüller, nicht altersgerecht und nicht auf die diversen Krankheiten der Bewohner/innen angepasst. Als Obst wird oft ein Apfel oder eine Apfelsine gereicht, die, mangels eines spitzen Messers nicht verzehrt werden können. „Gut essbares Obst“ der Saison, z.B. Brombeeren, Trauben, Himbeeren, Blaubeeren findet man neben den einzig gut essbaren Obst, den Bananen, in dem Heimen höchst selten.
Wer gar nach einem Sturz in ein Heim muss und deshalb auch psychisch darunter leidet, erlebt, dass immer mehr Heimbewohner dement sind und wird deshalb auch noch depressiv. Und wo sind die Heime für Jüngere, z.B. für einen jungen Motorradfahrer, der querschnittsgelähmt ist und keine Angehörigen mehr hat oder die MS-kranke Rollstuhlfahrerin, die nun mit Dementen und Hochbetagten den ganzen Tag zusammen leben muss? Nein, unsere Heime sind kein „Heim“ für einen Menschen, der noch klar bei Verstand ist!